Das Unglück von Eschede
Berlin, 16.05.2008 (BA)
Am 3. Juni jährt sich zum zehnten Mal der Tag des Eisenbahnunglücks von Eschede: 101 Menschen verloren ihr Leben, 105 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Die Deutsche Bahn gedenkt den Opfern am Jahrestag. DB-Konzernchef Hartmut Mehdorn: „Unsere Anteilnahme gehört nach wie vor den Opfern und Angehörigen des Unglücks. Technisch und betrieblich tun wir alles, damit sich eine solche Tragödie nicht wiederholt.“ Unter den Toten waren auch sieben Mitarbeiter der Deutschen Bahn, drei wurden verletzt. Die Entgleisung des ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“, der auf dem Weg von München nach Hamburg war, hat die Menschen erschüttert und die Mitarbeiter der Bahn tief bewegt.
Rechtlich ist das Unglück von Eschede abgeschlossen, die Verpflichtung der Bahn für Opfer und Angehörige hingegen bleibt. Für die Deutsche Bahn AG galt und gilt weiterhin, das Leid der Hinterbliebenen zu lindern. Um den Opfern des Unglücks zumindest finanziell rasch und unabhängig von Rechtsfragen helfen zu können, schlug die Bahn einen in Deutschland neuen Weg der Hilfeleistung ein.
Chronologie der Ereignisse
Wenige Tage nach dem Unglück konnte mit Professor Dr. Otto Ernst Krasney ein unabhängiger Ombudsmann als neutraler Ansprechpartner für die Betroffenen gewonnen werden. Krasney war kurz zuvor als Vizepräsident des Bundessozialgerichts in den Ruhestand gegangen. Dem Ombudsmann stellte die DB AG einen Fonds in Höhe von zunächst 5 Millionen Mark für seine Tätigkeit bereit. So konnte er unbürokratisch und damit schnell helfen.
Die Spendenbereitschaft der Menschen für die Opfer des Unglücks war zudem ungewöhnlich hoch. Der Freistaat Bayern – viele Opfer kamen von dort – sowie der Bund und das Land Niedersachsen – dort geschah das Unglück – stellten Soforthilfen bereit. Die Spenden aus der Bevölkerung in Höhe von rund 800.000 Mark, die auf zwei von der Bahn eingerichtete Spendenkonten eingegangen waren, hat Ombudsmann Professor Dr. Krasney verwaltet. Die Verteilung von Soforthilfen des Bundes und des Landes Niedersachsen erfolgte im Einvernehmen mit ihm. Alle Gelder sind an die Betroffenen des Unglücks gegangen und wurden nicht auf den zu leistenden Schadensersatz der Bahn angerechnet. Beispielhaft war ebenfalls der Einsatz der Rettungskräfte, der Ärzte und Seelsorger, bewegend die Bereitschaft der Bewohner von Eschede, die engagiert Hilfe geleistet haben.
Die noch am Unfalltag beginnende Suche nach der Unglücksursache zog sich über Jahre hinweg. Am Ende ergaben die amtlichen Ermittlungen: Auslöser der Entgleisung des ICE 884 war ein gebrochener Radreifen, der sich an einer Weiche unmittelbar vor der Brücke bei Eschede verhakte. Das führte zu einer fatalen Kettenreaktion: ein Wagen entgleiste, stellte sich quer und rammte den Pfeiler einer Brücke. Das führte zu einer Zugtrennung. Der vordere Triebkopf des 12-Wagen-Triebzugs fuhr weiter. Die Brücke stürzte über den nachfolgenden Wagen ein. Gutachter stellten fest, dass ein Riss, ausgehend von der nicht einsehbaren Innenseite des Radreifens, zum Bruch führte. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen mehrere Mitarbeiter der DB AG und des Radherstellers auf. Sie mussten sich vor Gericht verantworten. Das Verfahren wurde nach langer Beweisaufnahme eingestellt.
Opferbetreuung und Schadensausgleich
Ungeachtet der rechtlichen Beurteilung der Unfallursache hat die Bahn sich bemüht, Opfer und Angehörige schnell und unbürokratisch zu entschädigen. Insgesamt wurden mehr als 500 Ansprüche gegen die Bahn geltend gemacht, die einvernehmlich und abschließend geregelt wurden.
Bei der Opferbetreuung stand im Mittelpunkt, die finanzielle und seelische Not der Betroffenen zu lindern. Über den eingerichteten Fonds von 5 Millionen Mark hinaus hat die Bahn bisher mehr als 32 Millionen Euro an Entschädigungsleistungen – vor allem Kosten der Heilbehandlung, Schmerzensgeld, Unterhaltsschäden, Erwerbsschäden und Sachschäden – gezahlt. Weitere zweistellige Millionenzahlungen werden auch künftig von der Bahn zu zahlen sein, da in bestimmten Fällen monatliche Unterhaltszahlungen oder Renten zu leisten sind. Auch wenn Geld über die persönlichen Verluste und körperlichen Einschränkungen natürlich nicht hinweghelfen kann, so erleichtert es die Bewältigung des alltäglichen Lebens.
Die Hinterbliebenen haben pro Familie für jedes getötete Familienmitglied 30.000 Mark an Schmerzensgeld erhalten. Das Schmerzensgeld für Verletzte richtete sich nach der Schwere der gesundheitlichen Folgen. In Einzelfällen wurden Entschädigungen und Schmerzensgelder in Millionen-Höhe bezahlt, die sich zum Teil monatlich weiter erhöhen. Die finanzielle Regulierung im Fall Eschede übersteigt das von der Rechtsprechung in anderen Fällen zugesprochene Hinterbliebenenschmerzensgeld.
Psychosoziale Nachbetreuung
Professor Dr. Krasney, der Ombudsmann, hat mit dem bereitgestellten Fonds auch die Organisation und Durchführung eines umfassenden Nachbetreuungsprogramms finanziert. Beispielhaft sind die von Psychologen betreuten Selbsthilfegruppen, die wesentlich dazu beigetragen haben, Trauer und Schmerz zu verarbeiten. Krasney erläutert: „Mit den Mitteln des Fonds konnte ich da helfen, wo es das deutsche Schadensrecht nicht vorsieht.“ Das psychologische Programm war auf drei Jahre angelegt. Betreut wurden dabei auch Personen aus dem Kreis der Rettungsmannschaften.
Zum Gedenken an die Opfer wurde in Eschede eine Gedenkstätte eingerichtet. In die Ausgestaltung der Gedenkstätte waren auch die Hinterbliebenen eingebunden. Professor Dr. Krasney konnte aus dem Fonds die Finanzierung für die Einrichtung und die weitere Pflege durch den Landkreis sichern. Am 12. Mai 2001 wurde die Gedenkstätte eingeweiht.
Vorsorgliche Maßnahmen
Nach dem Unfall wurden sofort alle 59 ICE-1-Triebzüge aus dem Betrieb genommen und die Laufwerke einer sorgfältigen Ultraschallprüfung unterzogen. Ebenso wurden vorsorglich Monoblockräder eingebaut statt der gummigefederten Radreifen, wie sie der verunglückte Zug aufwies. Gleichzeitig wurde vorsorglich der Zeitraum für die Ultraschallprüfungen verkürzt. Diese Ad-hoc-Maßnahmen ergaben als Ergebnis keine weiteren Schäden an anderen Zügen.
Alle Betriebsprozesse stellte die Bahn in den folgenden Monaten auf den Prüfstand und forcierte technische Entwicklungen. So wurden die technische Automatisierung speziell im Instandhaltungsbereich weiter vorangetrieben und neue Prüfsysteme entwickelt, um noch besser Materialfehler aufzuspüren. Hier betrat die Eisenbahnindustrie Neuland und konnte vor allem von der Luftfahrt- und von der Kraftwerksindustrie lernen. Initiiert und koordiniert von der Deutschen Bahn haben Hochschulen, Forschungsinstitute und der TÜV ihren Sachverstand eingebracht.
Neben der unmittelbaren technischen Optimierung der Schienenfahrzeuge hat die Deutsche Bahn auch die Betriebsabläufe analysiert und beispielsweise Weichen ausgebaut, die vor Bauwerken wie Brücken platziert waren. „Ziel aller unserer Maßnahmen ist und bleibt ein Höchstmaß an Sicherheit und Zuverlässigkeit“, sagt Dr. Lutz Bücken, Generalbevollmächtigter Systemverbund Bahn.